Aktuelles Thema: Chirotherapie ohne Einrenken?

Mit Chirotherapie wird häufig noch das sogenannte "Einrenken" verbunden. Immer wieder liest man in der Presse von Fällen, in denen es durch "Einrenken" der Halswirbelsäule (HWS) zu Schlaganfällen gekommen sein soll.

"Tod durch Chirotherapie", "Schlaganfall nach Einrenken", heißt es dann oft. So wieder jüngst in der FAZ, wo ein Neurologe die Gefährlichkeit von Chirotherapie herausstellte.

Da ich immer wieder darauf angesprochen werde und auch von Patienten höre, dass ihr Neurologe vor Chirotherapie gewarnt hat, möchte ich hier ein paar Worte zu diesem Thema äußern.

Vorab: In dieser Praxis werden keine Manipulationen ("Einrenken") an der Halswirbelsäule (HWS) durchgeführt. An der HWS werden nur sogenannte weiche Techniken angewandt, die nach derzeitigem Wissensstand, mit keinen wesentlichen Risiken verbunden sind.

Was wird "eingerenkt"?

Das immer noch oft verwendete Wort "Einrenken" wird  von Fachleuten eigentlich nicht  verwendet, da es voraussetzt, dass vorher etwas ausgerenkt sein muss. Dies liegt bei den chirotherapeutisch zu behandelnden Störungen nicht vor. Vielmehr spricht man von Blockierungen, oder besser von reversiblen hypomobilen Dysfunktionen eines Gelenkes. Der diesen Störungen zugrunde liegende Mechanismus ist letztendlich noch nicht geklärt. Es scheint aber so zu sein, dass zwei Gelenkflächen, die mit einem glatten, elastischen Knorpel überzogen sind, durch eine Fehlhaltung oder -belastung aufeinander gepresst werden und sich wie Saugnäpfe aufeinander festsaugen. Seitliche Bewegungen sind dann zwar noch möglich, aber eine Separation oder ein Aufklaffen der Gelenkflächen kann nicht mehr erfolgen. Die dadurch reflektorsch verspannende Muskulatur löst dann einen hexenschussartigen Schmerz aus. In bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder NMR sind diese Störungen nicht zu sehen. Dem manualmedizinisch versierten Untersucher ist es jedoch ein Leichtes, diese Störungen durch eine genaue Untersuchung zu identifizieren. 

Solche Blockierungen bekommen sowohl durch die damit verbundenen lokalen Schmerzen, als auch durch die daraus resultierenden Bewegungseinschränkugen einen Krankheitswert. Typisch ist auch, dass nicht nur am Ort der Blockierung, sondern auch in entfernteren Regionen Schmerzen und Missempfindungen (pseudoradikuläre Symptome, referred pain) auftreten können. 

Was ist "Einrenken"?

Zur Therapie dieser Beschwerden müssen die Gelenkfächen befreit und wieder separiert werden. Dazu gibt es eine Vielzahl von seit  Jahrhunderten angewandten Techniken. Eine davon ist das sogenannte "Einrenken" oder besser die Manipulation. Dabei wird, nachdem die Gelenkflächen präzise zueinander ausgerichtet worden sind, ein kurzer, sehr schneller Impuls zur Separation des Gelenkes ausgeführt. Je besser diese Technik beherrscht wird, desto weniger Kraft wird benötigt. Der natürliche Bewegungsraum eines Gelenkes wird dabei nicht überschritten, weshalb auch keine Bänder ausleiern und das Gelenk nicht verletzt werden kann. 

Kurz nebenbei bemerkt:

„Eine zentrale Technik der Chiropraktiker ist es, das Gelenk aus dem anatomisch möglichen Bereich zu hebeln.“

(Interview mit Prof, Edzard Ernst: "Schätze in der Pflanzenmedizin" in Spiegelonline,2013 )

Solche Aussagen werden - wie hier - oft von selbst ernannten Fachleuten, die selber keine chirotherapeutische Ausbildung und eben keinerlei persönliche Erfahrung damit haben, verbreitet.

Tatsächlich ist dies Unsinn.

Was Prof. Ernst (nach spiegelonline Professor für Physikalische Medizin und Rehabilitation) beschreibt, würde bedeuten, dass ein Gelenk luxiert, also ausgerenkt, würde. Dies wäre in der Tat - wie der Interviewte sagt - „gemeingefährlich“. Eine technisch versiert ausgeführte Manipulation darf dies aber eben nicht. Die gesamte aufwendige Ausbildung deutscher Chirotherapeuten zielt genau darauf ab, dass keine anatomischen Grenzen überschritten werden. Der Blick in eines der vielen auch in der Schulmedizin mittlerweile anerkannten Lehrbücher der Chirotherapie würde solchen dummen und populistischen Aussagen die Grundlage entziehen. Auch der Kontakt mit der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin könnte bei ernsthaftem Interesse an wissenschaftlich fundierter Aufklärung bei einem „Fachmann“ voraus gesetzt werden.

So interessant der oben erwähnte Artikel ist, so sehr zeigen die Einwände gegen Chirotherapie und Osteopathie, dass der Interviewte anscheinend nicht verstanden hat, worum es bei Chirotherapie und Osteopathie eigentlich geht.

Seine Auslassungen lassen erkennen, dass er doch einiges durcheinander bringt (Impfung -Wirbelsäulenmanipulation-Mittelohrentzündung – Chiropraktiker als Allgemeinmediziner ???). Was damit gemeint sein soll, ist mir nicht klar geworden.

Als praktizierender Chirotherapeut, der zunehmend mit osteopathischen Techniken arbeitet, fühle ich mich durch Worte wie „...häufig gemeingefährlich“ oder “Ich würde Sie aus dem Kreißsaal schmeißen“ doch direkt betroffen und bin erstaunt, dies von einem wissenschaftlich arbeitendem Kollegen zu hören.

Schlaganfall durch "Einrenken"?

Sind der Therapeut aber nicht versiert und seine Technik schlecht, so sind Verletzungen des Gelenkes, seiner Bänder und angrenzender Strukturen durchaus denkbar. Erwiesen ist der kausale Zusammenhang zwischen Halswirbelsäulenmanipulationen und Schlaganfällen aber nicht. Die von einigen Neurologen als beweisend herangezogenen wissenschaftlichen Studien, lassen bei differenzierter Betrachtung einen derartigen Schluss nicht zu. Dort wird eher ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Blutgefäßverletzungen an der HWS und chirotherapeutischen Eingriffen beschrieben. Wenn man weiß, dass Einrisse der HWS-Blutgefäße meist mit Verspannungen und Blockierungen einhergehen, liegt es näher, zu vermuten, dass derartige Gefäßverletzungen schon vor einer chirotherapeutischen Therapie vorhanden waren. Es ist gesichert und durch Studien belegt, dass solche Blutgefäßverletzungen in der Regel spontan, ohne äußere Einwirkungen auftreten können.

Keine Angst

Derartige Überlegungen haben in der Praxis für Sportmedizin und Chirotherapie eher einen akademischen und keinen praktischen Sinn. Wir manipulieren an der Halswirbelsäule grundsätzlich nicht. Dies geschieht nicht wegen eines eventuell möglichen Verletzungsrisikos, sondern weil es moderne und effektivere Techniken gibt, die völlig ohne Kraftaufwand oder "Verrenkungen" auskommen und nach unserer Erfahrung nachhaltigere Behandlungsergebnisse liefern. Zu nennen sind hier: Postisometrische Relaxation (PIR), Facilitated positional release (FPR), myofasciale Techniken (MFT), craniosacrale Techniken (CST) etc.  

Trotzdem Vorsicht

Als Patient sollte man immer darauf bestehen, dass vor Manipulationen an der HWS möglichst ein aktuelles Röntgenbild vorliegt, und, dass der Therapeut sehr erfahren ist. In Deutschland ist von den zuständigen Fachgesellschaften vor Manipulationen ("Einrenken") an der HWS ein Aufklärungsgespräch mit Erläuterung der eventuellen Risiken vorgeschrieben. In anderen Ländern wird sogar eine einwilligende Unterschrift des Patienten verlangt (!). Abgelehnt werden sollten auf jeden Fall Überraschungsmanipulationen der HWS, die den Patienten unvorbereitet treffen.

Für weitergehende Fragen zu diesem Thema stehe ich gerne zur Verfügung. 

Dr. med. Christian Herda